Mit dem Winkelmesser auf der Streif
Professor Kurt Schindelwig von der Universität Innsbruck vermisst im Vorfeld alle Sprünge auf der Streif, um ihre Weite zu berechnen. Wäre die Gefahr für die Athleten zu groß, greift das Pistenteam ein und entschärft. Die Bilanz des Vorarlberger Biomechanikers ist hervorragend. Seine Berechnungen stimmen aber nur, passiert den Athleten kein Fahrfehler.
Eine zwei Meter lange Metallkonstruktion wird etwas oberhalb der Mausefalle auf den Schnee gelegt, dann hallt es laut und deutlich „Neunzehn“ über die Schlüsselstelle. Zwei Meter näher zur Kante heißt es „Neunzehn-Zwanzig“, neuerliche zwei Meter näher „Neunzehn-Dreißig“. Nein, entlang dem berühmt-berüchtigten Abschnitt werden am Sonntagvormittag nicht die Beginnzeiten der TV-Nachrichten verlesen. Hier arbeitet Biomechanik-Professor Kurt Schindelwig von der Uni Innsbruck gemeinsam mit Pistenchef-Herbert Hauser und Rennleiter Mario Mittermayer-Weinhandl daran, die die Sprünge auf der Streif in Augenschein zu nehmen. Die Zahlen sind Neigungen in Grad, gemessen vor dem Absprung und im Landebereich. Kurt Schindelwig steht demnach auch wagemutig mitten in der steilen Mausefalle und misst.
Die bereits vierte Saison wirft Kurt Schindelwig einen kritischen Blick auf die prestigeträchtige Rennstrecke. Er reist im Auftrag der FIS durch die Weltcup-Orte mit Speedstrecken. Nach Kitzbühel kam er auf direktem Wege aus Wengen, davor war er in St. Anton und Gröden. Sein Auftrag: Gemeinsam mit den Pistenteams für die größtmögliche Sicherheit bei den Sprüngen zu sorgen: „Ich helfe den Entscheidungsträgern bei ihrer Entscheidung, ob die Sprünge weiter gehen oder weniger weit und wie hart der Impact ist“, sagt der Vorarlberger. Mit Impact ist die Landung gemeint.
Um ein Sprungprofil zu berechnen, wird mit einem Präzisions-Neigungsmessgerät auf der Rennlinie bis zum Absprung sowie der Landebereich vermessen – immer in Zwei-Meter-Abständen. „Das Wichtigste ist die Neigung am Absprung. Aber auch das restliche Profil hat einen wesentlichen Einfluss. Etwa die Geschwindigkeitsbereiche und das Absprungverhalten der Athleten“, erklärt Kurt Schindelwig. Und weil er eben bereits das vierte Mal in Kitzbühel arbeitet, weiß er dank der Daten aus den Vorjahren sowohl um die Geschwindigkeiten, mit denen die Athleten zum Absprung kommen, als auch um das Absprungverhalten (neutral, leicht gedrückt, stark gedrückt oder gar nicht gedrückt).
Springender Punkt dabei: die äquivalente Landehöhe. Kurt Schindelwigs eigens entwickelte Software berechnet nach der Eingabe aller Daten (Neigung, Geschwindigkeitsbereiche, Absprungverhalten), aus welcher vertikalen Höhe die Skifahrer auf einer waagrechten Fläche landen: „Hier ist der kritische Bereich zwei Meter.“ Ab zwei Meter besteht Verletzungsgefahr, ab 2,5 Meter Höhe wird es gefährlich. Landet ein austrainierter Profisportler aus einer Höhe von unter zwei Meter, stellt das für ihn kein Problem dar.
Kurt Schindelwig vermisst in Begleitung von Herbert Hauser und Mario Mittermayer-Weinhandl binnen 90 Minuten alle Sprünge auf der Streif: Mausefalle, Alte Schneise, Seidlalm, Hausbergkante und Zielsprung. Die Berechnung dauert pro Sprung nur wenige Minuten. Das Ergebnis stellt alle Beteiligten zufrieden. Die Sprünge sind sicher. Sie bleiben für die Läufer eine Herausforderung, können teilweise spektakulär aussehen, sind allerdings nicht gefährlich. „Und nun kommt das Aber“, wirft der Biomechaniker ein: „Diese Auswertung gilt nur, wenn der Skifahrer richtig springt und mit beiden Füßen in Fahrtrichtung landet. Sobald er sich verdreht oder in zu starke Rücklage gerät, hilft diese Berechnung nicht. Das Können der Fahrer hat große Bedeutung.“ Aber der Einsatz von Kurt Schindelwig hat sich bislang bezahlt gemacht: „Ich war mittlerweile bei über 40 Trainingsläufen und Renntagen dabei – noch nie hat es eine Verletzung aufgrund eines zu harten Impacts gegeben.“ Würde ein Sprung zu gefährlich sein, müsste man mit der Schneefräse oder Schaufeln eingreifen und den Absprung um ein paar wenige Grad abändern: „Hier geht es meistens um ein, zwei Grad. Nie um mehr. Das ist reines Feintuning und es zeigt, wie professionell im Vorfeld bereits gearbeitet wurde“, betont Kurt Schindelwig und bestätigt die Arbeit von Herbert Hausers Pistenteam. „Wir arbeiten im Vorfeld mit Auge, Gefühl und langjähriger Erfahrung“, sagt der Pistenchef und fährt fort: „Kurt belegt uns diese Arbeit wissenschaftlich und ich vertraue ihm.“ Dass er jedes Jahr wiederkommt, ist für die Sicherheit essenziell, denn kein Hügel ist je zu 100 Prozent wie im Jahr davor, hinzu kommt die wechselnde Schneebeschaffenheit. Herbert Hauser ist es wichtig zu betonen: „Wir versuchen im Vorfeld alles zu tun, um das Rennen so sicher wie möglich zu machen, und wir überlassen nichts dem Zufall.“ Natürlich wird auch bei der Kurssetzung eingegriffen, könnte ein Sprung zu weit gehen. In diesem Fall setzt man die Tore davor so um, dass der Fahrer eingebremst wird.
Dank Kurt Schindelwigs Berechnung weiß man nun u.a., dass die Sprünge in der Mausefalle heuer knapp an die 60 Meter gehen können, sollte die Geschwindigkeit 105 km/h betragen und der Läufer den Sprung nicht drücken. Drückt er, landet er laut Berechnung bei 44 Meter. „Nach dieser Statistik ist an der Mausefalle nichts mehr zu tun. Die Sprünge dürften so wie 2024 aussehen: spektakulär, aber nicht gefährlich. Außer es kommt ein Fahrfehler dazu.“ Und diesen Abschnitt wird Kurt Schindelwig in dieser Woche ganz genau beobachten. Er steht an der Mausefalle, wo er nicht nur filmt, sondern auch die Geschwindigkeit misst. Ein Kollege macht dasselbe an einem der anderen Sprünge. Man möchte nichts dem Zufall überlassen.
Foto © K.S.C./alpinguin